Erschöpfung aus ayurvedischer Sicht

Ein Leitfaden für Therapeuten und Betroffene | von Ralph Steuernagel

Ich kann nicht mehr. Ich bin ausgebrannt. Ich bin immer müde. Ich habe keine Kraft mehr. Diese und viele ähnliche Aussagen von Klienten begegnen uns schon immer in der täglichen Ayurveda Praxis.

Die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie wirken seit zweieinhalb Jahren zusätzlich verstärkend. Aktuell kommen Ängste und Zukunftssorgen durch den bedrohlichen Krieg in Europa noch hinzu. Daher ist eine professionelle Differentialdiagnostik und individuelle Therapieplanung zur Steigerung des Energieniveaus von größter Bedeutung.

Die erste Reaktion vieler Therapeuten in der Beschwerdeanamnese ist: hier hat sich Jemand überlastet, die Batterien sind leer. Das ist eine „Vata-Störung“ und dieser begegnen wir mit einem nachhaltigen Aufbau durch Nahrung, Heilpflanzen und Ölmassagen – am besten im Rahmen einer Auszeit.

Leider führt dieser Aktionsplan nur in seltenen Fällen zu einem nachhaltigen Therapieerfolg. Das Thema ist viel komplexer und bedarf mehrerer Perspektiven. Die erste und wichtigste lautet: Nidana Parivarjana.

Ursachen erkennen und beheben

Hinter jeder Erschöpfung stehen Ursachen (Nidana), die wir zuerst erforschen und verstehen müssen. Meiner Erfahrung nach sind diese selten monokausal und vielmehr Ursachenkomplexe. Sie setzen sich aus psychischen und somatischen, konstitutionellen und erworbenen Quellen zusammen.

Starte anamnestisch zunächst mit der Entwicklungsgeschichte und folgenden Fragen:

  • Seit wann fühlen Sie sich erschöpft?
  • Waren Sie früher energiegeladen oder schon immer weniger belastbar?
  • Begann die Erschöpfung spontan oder schleichend?
  • Wie waren in dieser Zeit Ihre privaten und beruflichen Lebensbedingungen?
  • In welchem gesundheitlichen Zustand befanden Sie sich zu Beginn?
  • Welche Symptome bemerkten Sie zuerst und welche kamen im Laufe der Zeit hinzu?
  • Was haben Sie getan, um diese Beschwerden zu lindern? Mit welchem Ergebnis? Was davon verbesserte, was verschlechterte?

 

Gehe im nächsten Schritt auf den aktuellen Zustand ein:

  • Welche Symptome und Beschwerden belasten Sie heute?
  • Fühlen Sie sich eher körperlich oder eher mental erschöpft? Oder eine Kombination von beidem? Wo genau lässt sich Ihre Erschöpfung lokalisieren? Diese konkretisierende Frage ist von überragender Bedeutung. Oft wird Erschöpfung nur schwammig formuliert. Wir müssen wissen, woran wir den Grad und die Veränderung künftig erkennen und messen können.
  • Welche Einflüsse verstärken und welche lindern Ihre Beschwerden? Differenziere diese Frage anhand von fünf Faktoren: Ernährung, Schlaf, Bewegung, Tages- und Jahreszeiten, Stressoren (soziale, gesundheitliche, berufliche, wirtschafliche, spirituelle).
  • Welche Ihrer täglichen Gewohnheiten wirken also weiter erschöpfend? Nun wird der Klientin bewusst, wo genau sie aktuell Öl ins Feuer gießt. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig, da wir oft wider besseren Wissens handeln – und dieses Prajnaparadha ist die wichtigste Ursache für unser Leiden.
  • Können Sie sich an freien Tagen oder im Urlaub gut erholen und auftanken? Diese Frage hilft uns, den Grad der Erschöpfung zu erahnen und damit eine prognostische Einschätzung für die mögliche Dauer unserer Behandlung vorzunehmen.

Nachdem Du nun einen ersten Eindruck zu möglichen Ursachen der Erschöpfung erhalten hast, stelle alle aktuell verstärkenden Einflüsse auf den Prüfstand: welche davon lassen sich sofort, welche mittel- und langfristig entfernen? Im Sanskrit wird dies Parivarjana genannt.

Diese Regel ist im Ayurveda heilig:

Zuerst Ursachen beheben (Nidanaparivarjana), dann Therapien durch linderndes Shamana Chikitsa (Ernährung, Lebensstiländerung, Arzneigabe) und eliminierendes Shodhana Chikitsa (Panchakarma, Manualtherapie, Chirurgie) einleiten.

Wird diese Regel nicht respektiert, kehren die Beschwerden nach kurzer Zeit trotz aufwendiger Therapiemaßnahmen wieder zurück.

Frage daher Deine Klientin ganz direkt nach ihrer Compliance:

Wenn Sie weiterhin so leben, wie Sie zuletzt gelebt haben, werden Sie weiterhin erschöpft bleiben – das haben wir Beide soeben erkannt. Sind Sie bereit für eine grundlegende Veränderung Ihrer unzuträglichen Gewohnheiten?

Gibt Sie Dir nun ihr OK, dann stimme gemeinsam mit ihr einen ersten Zeitraum ab, in dem Ursachen behoben und therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Erfahrungsgemäß sollte dieser wenigstens vier und maximal acht Wochen betragen. Dann folgt die erste Auswertung und Aktualisierung.

Grundbatterie oder Akku?

Unsere drei Energiequellen sind Nahrung, Atmung und Licht. Aus Nahrung gewinnen wir Ojas, aus Atmung Prana und aus Licht Tejas.

Ich arbeite gerne mit verständlichen Bildern, die meinen Klienten auch nach einer Konsultation bleiben und mit denen sie ihre Lebensrealität verbinden können. Ein solches ist die Vorstellung einer Grundbatterie und eines Akkus.

Ich habe dieses Modell auf Basis der ayurvedischen Ojas-Lehre entwickelt und stelle es Dir hier gerne in 8 Schritten vor:

  • Wir Alle tragen zwei Arten von Batterien in uns: eine einmalige Grundbatterie und einen aufladbaren Akku. Die Stärke beider Batterien ist konstitutionell bedingt und nimmt von der Vata- über die Pitta- bis zur Kapha-Prakriti zu. Gib Deiner Klientin ein weißes Blatt Papier im Querformat und lasse sie darauf zwei Batterien zeichnen. Alternativ kannst Du einen Flipchart oder ein Whiteboard in Deiner Praxis nutzen – das Großformat wird noch kraftvoller.
  • Die Grundbatterie können wir nicht aufladen und nicht ersetzen. Sie gilt es zu erhalten. Sie ist für unsere Langlebigkeit zuständig und lässt uns in Notlagen überleben. Eine vorzeitige Erschöpfung führt zur Verkürzung unserer Lebensspanne. Du erkennst Parallelen zum Konzept von Paraojas.
  • Unser Akku wird täglich durch Nahrung (die optimalerweise zum Aufbau von Aparaojas führt), Atmung, Licht und Schlaf aufgeladen. Diesen können und sollten wir direkt beeinflussen. Frage Deine Klientin: Welche dieser Quellen nutzen Sie gefühlt optimal, welche suboptimal und welche katastrophal? Lasse sie die drei mit je einem Smiley in den Akku einzeichnen.
  • Jede körperliche und geistige Aktivität erfordert Energie und führt somit zu einer Entladung unseres Akkus. Wenn diese Aktivitäten zudem unzuträglich sind (Mithyaharavihara), unsere mentale Balance fehlt und wir massiven Stressoren ausgesetzt sind, schädliche Substanzen wie Alkohol und Drogen konsumiert werden oder chronische Krankheiten Kraft rauben, führt dies zu einer sturzartigen Entladung. Frage Deine Klientin: Welche Aktivitäten leeren Ihren Akku besonders drastisch? Lasse sie diese erneut mit jeweils nach unten gerichteten Pfeilen in den Akku einzeichnen.
  • In welchem Zustand befindet sich Ihr Akku, kannst Du nun Deine Klientin fragen – und diesen auf der Zeichnung schraffieren. Laden Sie diesen genauso täglich auf wie Ihr Smartphone? Oder starten Sie den Tag mit 10% Ladezustand, obwohl große Aufgaben auf Sie warten, die viel Energie abverlangen? Wenn der Akku schon mittags leer ist, fallen Sie nicht gleich um – aber Sie zapfen Ihre Grundbatterie an, die eigentlich nicht zur Erbringung alltäglicher Leistungen gedacht ist. Jetzt wird Deiner Klientin (oft schmerzlich) bewusst, wie sie mit ihrer Energie haushält. Sie erkennt das Missverhältnis zwischen Anforderung und verfügbarer Kapazität. Die Kapazität der Grundbatterie ist konstitutionsabhängig: die Kapha Prakriti weist 100% auf, die Pitta Prakriti vielleicht drei Viertel und die Vata Prakriti etwa zwei Drittel. Das ist nur orientativ gedacht. Da Du in der Erstkonsultation noch kein ausreichendes Konstitutionsverständnis zu Deiner Klientin hast, solltest Du hier noch keine Einschätzung vornehmen.
  • Frage Deine Klientin jetzt: Was könnten Sie tun, um Ihren Akku besser und nachhaltiger aufzuladen?
  • Und dann: Was könnten Sie vermeiden, um Ihren Akku weniger schnell zu leeren?
  • Und zuletzt: Wann möchten Sie womit starten?

 

Lege besondere Aufmerksamkeit auf die Umsetzbarkeit aller geplanten Veränderungen. Frage hierzu jeweils einzeln auf einer Skala von 0-10, wie wahrscheinlich es ist, dass die Klientin a) beginnt und b) dabei bleibt.

0 bedeutet „auf keinen Fall“, 10 steht für „zu 100% sicher“.

Wenn Du nicht mindestens eine 7 erhältst, vereinfache die Aufgabe.

Die differentialdiagnostische Auswertung

Aus klassisch-ayurvedischer Sicht können sowohl Funktionen als auch Strukturen unseres Körpers für eine Erschöpfung verantwortlich sein.

Funktionell betrachten wir die Tridosha und Agnibala:

  • Die durch Vata-Aggravation gekennzeichnete Erschöpfung lässt sich als Leere-Pathologie einstufen. Sie benötigt eine nutritive Kost, viel Ruhe und Schlaf, Sinnesreizlinderung und aufbauende Supplemente. Die primären Therapiestrategien sind Brmhana, Nidrajanana, Balya und Rasayana Karma.
  • Bei einer Pitta-Aggravation kommt es zum sprichwörtlichen „Burnout“, der ebenfalls als Leere-Syndrom einzustufen ist. Hier stehen die Erholung, Entschleunigung und Intensitätsreduktion im Mittelpunkt therapeutischer Maßnahmen. Vorrangige Therapiestrategien sind Balya und Rasayana.
  • Ist eine Kapha-Aggravation mit Erschöpfung assoziiert, so liegt ein Fülle-Syndrom vor. Ruhe und Aufbau würden das Problem verstärken, daher sind reduzierende und stimulierende Maßnahmen angezeigt. Die wichtigsten Therapiestrategien sind Langhana, Shodhana und Lekhana Karma.
  • Die beiden mit Erschöpfung assoziierten Agni-Zustände sind das schwache Mandagni und wechselhafte Vishamagni. In beiden Fällen sollte wir nebst erforderlicher Dosha-Senkung das Agni durch entsprechende Dravya gezielt stimulieren und die Ernährung agnistatusgerecht einstellen.

 

Strukturell können Gewebeüberschüsse (vor allem Mamsa und Meda Dhatuvrddhi) und Gewebemängel (vor allem Rasa und Raktakshaya) für eine Erschöpfung verantwortlich sein. Diese können durch entgegengesetzte Maßnahmen entsprechend reguliert werden.

Auch der Zustand unserer Leitungsbahnen (Srotamsi) spielt eine wichtige Rolle in der Diagnostik von Erschöpfungszuständen. Sowohl blockierte Bahnen (Srotorodha durch Ama, hohes Kapha oder angesammelte Mala) als auch der übermäßige Verlust (Atipravrtti) von Körpersubstanz können die Versorgung hemmen und zu Energieverlust beitragen.

Welche Rolle spielt unser Geist in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Erschöpfung? Eine überragende! Sowohl Rajas als auch Tamas wirken als Manasadosha erschöpfend, nur in Sattva Guna ist Regeneration und ein gesunder Energiehaushalt möglich. Welche geistigen Fakultäten sind beeinträchtigt, welche Lebensziele werden übermäßig, welche mangelhaft verfolgt? Zur nachhaltigen Energiesteigerung ist Sattvavajaya unerlässlich.

Den Teufelskreis durchbrechen

„Wenn ich wieder Energie habe, kann ich mich mehr bewegen, gesünder essen, meine Wohnung entrümpeln und aufräumen, private und berufliche Probleme lösen.“ Das höre ich täglich von meinen Klienten.

Andersherum betracht: Solange ich keine Energie habe, kann ich nichts verändern. Und genau dieses Mantra verhindert die Gesundung. Wenn ich mein Verhalten nicht ändere, wird sich mein Empfinden auch nicht verändern.

Natürlich können wir eine chronisch erschöpfte Klientin nicht überfordern. Vielmehr gilt es, kleine, manchmal sogar winzige Schritte zu gehen. Starte mit 5 Minuten Bewegung am Tag und steigere diese langsam gemäß Belastbarkeit. Starte mit einer warmen, frisch zubereiteten Mahlzeit. Mit der ersten Entsorgung unbrauchbarer, belastender Objekte. Und hilf Deiner Klientin dabei, Helfende zu aktivieren, wenn sie es alleine noch nicht schafft.

Suche zur Steigerung des Energieniveaus erschöpfter Klienten nicht nach dem ultimativen Booster aus der Phytowelt. Ashwagandha, Bala & Co. sind großartige Add-Ons, alleine bewirken sie aber wenig. Denke stattdessen ganzheitlich ayurvedisch, erkenne und vermeide Ursachen und begleite die Hilfesuchenden in der Änderung ihrer Lebensgewohnheiten. Die wichtigste Therapiesäule zum Aufladen des Akkus ist Vihara, die Verhaltensmedizin.

Alles Gute für Deine Praxis!

WhatsApp
Facebook
Twitter
LinkedIn
E-Mail