Im alten Indien gab es keine bildgebende Diagnostik wie Ultraschall, Röntgen oder Magnetresonanztomographie. Traditionelle Ayurveda Ärzte waren daher auf die Untersuchung von Gesundheit und Krankheit mittels ihrer fünf Sinne angewiesen.
Dr. Arora aus Rishikesh, mein erster Ayurveda Lehrer, gab mir 1994 einen Rat mit auf meinen Weg: Lerne, Deinen Patienten zu hören, zu fühlen, zu sehen, zu schmecken und zu riechen – nur dann kannst Du ihn verstehen.
Die heutige Hightech-Diagnostik ist von großem Nutzen, kleinste Winkel des Körpers können ausgeleuchtet und zielgerichtet therapiert werden. Wenn dabei aber die sinnliche Wahrnehmung des Menschen vernachlässigt wird, gehen wertvolle Informationen verloren und eine ganzheitliche Behandlung ist unmöglich.
Nachdem wir uns in den ersten drei Beiträgen dieser Artikelserie mit dem Fühlen (der Palpation) des Pulses, dem Sehen (der Inspektion) der Zunge und der Analyse von Ausscheidungen beschäftigten, wenden wir uns nun dem Hören zu.
Die wichtigsten Klänge des Menschen
Es ist so spannend, Menschen achtsam zuzuhören. Die beiden wichtigsten, höchst individuellen Klänge sind die Stimme und Atemgeräusche. Gemeinsam ergeben sie ein Konzert, dessen ayurvedische Entschlüsselung diagnostisch von großem Nutzen ist.
Stimme übermittelt zudem Stimmung, weshalb die psychologische Diagnostik von wachsamen Ohren des Therapeuten profitiert.
Ergänzend kommen gemäß Gesundheitszustand weitere Geräusche von Gelenken, Verdauungsorganen, Atemwegen und dem Herzen hinzu. Seit 200 Jahren werden Stethoskope als Diagnosewerkzeuge eingesetzt, um leise Geräusche wahrnehmen zu können, ohne das Ohr auf Brust oder Bauch eines Patienten legen zu müssen.
Die Klangwelt von Vata
Dominiert Vata konstitutionell oder störungsbedingt, wird die Stimme schwach, wirkt etwas gehaucht und man hat den Eindruck, das Sprechen kostet Kraft. Die zunehmende Trockenheit begünstigt Heiserkeit und verstärkt Räusperzwang. Vata beschleunigt das Sprechtempo, dabei überschlagen sich manchmal Worte. Ein weiteres Merkmal von Vata ist nebst der Schnelligkeit auch die Starre und Hemmung, die sich in Stottern ausdrücken kann.
Auch die Atmung beschleunigt sich bei Vata Dominanz und wird dadurch flacher. Kurzatmigkeit und Atemnot zeigen sich vor allem unter Stressbelastung. Atmung und Sprache werden asynchron, was in der Folge Vata weiter ansteigen lässt.
Die Trockenheit von Vata begünstigt degenerative Prozesse im Bewegungsapparat, die sich in ausgeprägten Reibe-, Knirsch- und Knackgeräuschen der Gelenke äußert. Das „Einrenken“ schafft hierbei nur psychisch Entlastung, verstärkt aber den Verschleiß.
Die Bewegung von Vata führt im Verdauungstrakt zu Luftansammlungen mit Windabgängen und Gurgelgeräuschen, die oft mit dem bloßen Ohr wahrnehmbar sind.
Die Klangwelt von Pitta
Eine Dominanz von Pitta führt oft zu einer klaren, lauteren und durchdringenden Stimme mit deutlicher Artikulation. Manchmal wirkt sie gepresst mit hartem Stimmansatz. Das Sprechtempo ist ebenfalls oft beschleunigt, Pitta verliert dabei aber selten den Faden und steigert sich in seine Argumentation hinein.
Die Atmung einer durch Pitta dominierten Person ist mittelschnell und mitteltief, oft zu sehr auf das Einatmen fokussiert. Häufig ist ein Stöhnen oder Seufzen vernehmbar – als Ausdruck innerer Spannung, Reizbarkeit und Ungeduld.
Gelenke und der Verdauungstrakt äußern sich bei einer Zunahme von Pitta nicht unbedingt in auffäligen Geräuschen.
Die Klangwelt von Kapha
Der allgemeine Klang von Kapha ist ruhig, friedvoll, harmonisch und gleichmäßig. Der Stimmeinsatz ist weich und immer gut „geölt“, die Klangfarbe wohltuend. Bei Schleimansammlung in den Atemwegen kann es zu Räusperzwang oder Hustenreiz mit Auswurf kommen. Der Weg von Kapha zu Ama ist nah – bei Ama-Belastung hört sich der Speichel der Betroffenen klebrig an, was bei jeder Mundöffnung wahrnehmbar ist.
Das Sprechtempo ist langsam, es wird selten mehr als nötig verbal kommuniziert. Auch die Atemfrequenz ist langsam bei größerer Atemtiefe. Das Ausatmen wird betont, schöpferische Atempausen kommen häufig vor. Dadurch wirkt ein durch Kapha dominierter Kommunikationspartner beruhigend und deeskalierend, ganz im Gegensatz zu Vata und Pitta.
Gelenk- und Verdauungsgeräusche sind selten anzutreffen, da Kapha weder zu Abnutzungen noch übermäßigen Bewegungen neigt.
Krankheiten am Klang erkennen
Zahlreiche Erkrankungen weisen spezifische Klangbilder auf. Diese sind vor allem für internistisch arbeitende Therapeuten von großer Bedeutung. Viele Herz-Kreislauferkrankungen, Atemwegsbeschwerden und Magen-Darm-Störungen lassen sich auditiv unterscheiden.
Auch Kinderärzte und Gerontologen sind in besonderem Maße auf ihre Sinne angewiesen, da kleine Kinder und alte Menschen weniger auskunftsfähig sind.
Auditive Diagnostik und Therapie
Ein besonders spannendes Phänomen in der Welt des Hörens ist der Rückkopplungseffekt. Je schneller Vata, penetranter Pitta oder geruhsamer Kapha spricht, desto stärker steigen die jeweiligen Dosha an.
Das bedeutet, auditive Diagnostik lässt sich direkt therapeutisch durch gegenteilige Verstärkung nutzen. So können bewusste Atemübungen zur Vertiefung und Verlangsamung sowie Rhetoriktrainings Vata schnell und nachhaltig senken.
Pitta kann lernen, Weichheit und Gelassenheit in seine Kommunikation zu integrieren – allein diese Veränderung kann schon um 10-20 mmHg den Blutdruck senken. Und Kapha lässt sich durch aktive Sprech- und Atemübungen stimulieren und in Bewegung bringen.
Ayurvedische Diagnostik ist also auch Musik in den Ohren des Therapeuten, der wie ein Dirigent den neuen Takt angibt und somit ein gesundes Klangbild als Ausdruck innerer Balance unterstützt.
Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit,
Ralph Steuernagel
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