Er benötigt nur 100 Millisekunden: der erste, entscheidende Eindruck. Wir schauen in die Augen und das Gesicht unseres Gegenübers und urteilen sofort intuitiv über Vertrauenswürdigkeit, Sympathie, Attraktivität und Zugänglichkeit.
Die Psychologie des ersten Eindrucks machen wir uns auch in der ayurvedischen Diagnostik zunutze. Je erfahrener der Diagnostiker, desto treffsicherer der erste Eindruck. Auch nach einer einstündigen Anamnese ändert sich an diesem oft nicht viel, lediglich die Sicherheit, mit der ein erstes Urteil gefällt wird, steigt.
Die Inspektionen von Augen (Drika) und Antlitz (Akriti) eines Patienten zählen zu den letzten beiden der acht Untersuchungsverfahren (Ashtavidha Pariksha) der Ayurvedamedizin.
Stabile, relativ unveränderliche Merkmale weisen auf konstitutionelle Dominanzen (Prakriti) hin; variable, veränderliche Merkmale dienen hauptsächlich der Diagnostik von Abweichungen (Vikriti) und Krankheiten (Roga). Unveränderlich sind die meisten knöcherigen Strukturen, veränderlich sind Farben und Funktionen.
Drika Pariksha – Augendiagnostik im Ayurveda
Die Augen sind Sitz von Pitta (Alochaka) und damit Ausdruck unseres Feuerelements. Durch sie strahlt Ojas, die feine Essenz aus der Gewebebildung, und sie vermitteln Informationen über den Zustand der drei geistigen Eigenschaften Sattva, Rajas und Tamas.
Im Ayurveda untersuchen wir die Augen makroskopisch, im Unterschied zur mikroskopischen Irisdiagnostik aus der westlichen Naturheilkunde.
Die fünf wichtigsten zu beurteilenden Strukturen sind:
- Der Augapfel
- Die Augenlider
- Die Wimpern
- Die Sklera
Wie immer lassen sich alle Merkmale nach ihrer jeweiligen Dominanz in die drei Gruppen von Vata, Pitta und Kapha einteilen:
Die von Vata dominierten Augen weisen einen kleinen Augapfel auf, der oft eingefallen und nervös wirkt. Die Augenlider sind trocken, schlaff und herabhängend – ihnen fehlt der nötige Tonus. Die Wimpern sind wenig und rau, der Wimpernkranz weist häufig Lücken auf. Die Sklera ist trüb oder gräulich. Vata-Augen scheinen immer in Bewegung zu sein, unstetig, umherwandernd, suchend.
Augen mit Pitta Dominanz bestechen durch ihren Glanz, der Augapfel ist mittelgroß. Lichtempfindlichkeit und Rötungsneigung von Augapfel, Lidern und Sklera sind zwei zentrale Charakteristika des Pitta-Auges. Auch Gelbfärbungen werden Pitta zugeordnet. Betroffene nehmen oft ein Brennen wahr. Die Wimpern sind wenig, aber ölig. Der fordernde, stechende, durchdringende Blick von Pitta bleibt im Gedächtnis des Betrachters.
Kapha gleicht nach indischer Tradition den großen, schönen, feuchten und funkelnden Kuhaugen. Die Augenlider sind schwer und voluminös, die Wimpern lang, dick und ölig. Kapha dominante Skleren sind leuchtend weiß oder blass. Die Augen strahlen eine gewisse Ruhe und Gelassenheit aus. Kapha-Augen sind traditionell das Symbol von Attraktivität und liebevoller Güte.
Akriti Pariskha – Antlitzdiagnostik im Ayurveda
Akriti steht im größeren Kontext für den Gesamteindruck des Patienten und im engeren Sinne für das Antlitz, Kopf und Gesicht.
Am Kopf werden vorrangig Stirn, Haare, Schläfen, Ohren, Augenbrauen, Nase, Wangen, Lippen, Zähne, Kinn und Hals beurteilt. Außerhalb des Kopfes sind Thorax, Hüfte, Arme und Beine, Hände und Füße von diagnostischer Bedeutung.
Starkes Kapha lässt sich an den voluminösen Strukturen erkennen: die breite und prominente Stirn, das kräftige Haar und die buschigen Augenbrauen, die großen Buddha-Ohren mit starken Ohrläppchen, eine voluminöse Nase, kräftige Wangen, der Schmollmund, das ausgeprägte Kinn und der breite Hals sind charakteristische Merkmale. Die Bilderbuchzähne sind weiß, groß, gerade und gleichen einer Perlenkette.
Der Kapha-Thorax ist groß und breit, der von den beiden Rippenbögen gebildete epigastrische Winkel ist stumpf, also über 90 Grad. Große Brüste der Frau und ein großer Brustmuskel des Mannes sind typische Kapha-Merkmale. Die Hüfte ist weiblich hervortretend, Arme und Beine sind in ihrem Muskel- und Fettanteil ausgeprägt, Sehnen und Blutgefäße darunter kaum sichtbar. Weiche, kräftige Hände und Füße runden das Bild von Kapha ab. Alle Gelenke sind groß und stabil.
Das ausgeprägte Pitta erkennen wir immer an warmen Farben (rot und gelb), Hitze und Glanz. Die Strukturen sind meist muskulös, athletisch und von mittlerer Statur. Die dünnen und eher fettigen Haare neigen vorzeitig zum Ergrauen, bei Männern ist eine frühe Glatzenentwicklung häufig. Die Zähne sind mittelgroß und von gelblicher Farbe. Die Haut fällt durch ihre erhöhte Pigmentationsneigung, Wärme und Schweißbildung auf.
Hohes Vata drückt sich in schlanken, zarten und trockenen Strukturen aus und steht den Merkmalen von Kapha meist diametral entgegen. Stirn, Wangen und Lippen sind schmal, die Schläfen eingesunken, Nase und Ohren klein und zart, Haare und Augenbrauen dünn und trocken, das Kinn schwach ausgebildet. Vata-Zähne sind klein, rau, gräulich und weisen oft Fehlstellungen auf. Die 82 Mimikmuskeln werden von Vata gesteuert und befinden sich in übermäßiger Bewegung.
Hals, Hüfte und Thorax sind schmal, der epigastrische Winkel spitz und damit unter 90 Grad. Die Brüste der Frau sind klein, die Muskelmasse an Armen und Beinen gering. Sehnen und Blutgefäße sind unter der Haut deutlich sichtbar. Zarte Gelenke an den Händen und Füßen weisen deutlich auf Vata Dominanz hin.
Augen und Antlitz sind wertvolle Diagnosetools in der ayurvedischen Praxis. Ihre Analyse beginnt im allerersten Moment der Begegnung und läuft unbewusst während jeder Anamnese und Untersuchung mit.
Krankheiten können konstitutionelle Merkmale überdecken, dennoch treten an relevanten Stellen immer wieder die anlagebedingten Zeichen hervor. Während einer ayurvedischen Therapie dienen beide Untersuchungen der Verlaufskontrolle.
Indirekt sind alle Menschen Antlitzdiagnostiker und untersuchen unbewusst die Merkmale ihrer Mitmenschen – für mehr Sicherheit, harmonische Beziehungen und zur Entdeckung von Gleichgesinnten.
Vertrauen Sie Ihrem ersten Eindruck!
Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit,
Ralph Steuernagel
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